Freitag, März 14, 2008

Antiautoritäre Erziehung

Mario schrieb am 14.03.2008 14:34 Uhr bezogen auf die 68er: "Wir können alte Dinge wieder zum Leben erwecken - wenn wir denn so wollen."

Welche Dinge meinst Du konkret?

Ich halte es für wahrscheinlich, dass Du vieles aus dieser Zeit nicht kennst, z.B. das Züchtigungsrecht an den Schulen:

"In der Bundesrepublik Deutschland bestand bis 1973 ein Züchtigungsrecht für Lehrkräfte an Schulen gegenüber den ihnen zur Erziehung anvertrauten Schülern. Zu den verbreitetsten Körperstrafen gehörten Ohrfeigen, „Kopfnüsse“ sowie die so genannten „Tatzen“ (Schläge mit einem Lineal oder Rohrstock auf die Handflächen des Schülers). Körperstrafen auf das Gesäß, die noch zum Beginn des 20. Jahrhunderts eine Hauptrolle gespielt hatten, wurden in den Schulen im deutschen Sprachraum seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zunehmend reduziert.
In der DDR wurden Körperstrafen an den Schulen 1949 abgeschafft."

Quelle: wikipedia ... Züchtigungsrecht

Damit war das "Ding" aber längst nicht vom Tisch, denn Eltern durften noch "züchtigen" - und als ich auf ein Internat kam, unterschrieben dort sogar auch meine Eltern mit größter Selbstverständlichkeit, dass die Ausübung des Züchtigungsrechts von Erziehern erfolgen dürfe. Schon am ersten Tag handelte ich mir eine Ohrfeige ein, weil ich einem Mitschüler, der mich bei Tisch als "Neuen" ärgern wollte, "versehentlich" den von ihm mir übervollen Suppenteller über die Hose geschüttet hatte: "Kann ja mal passieren."

Die nächste Ohrfeige noch am selben Abend, weil mir niemand verraten hatte, dass der Letzt-Zu-Bett-Gehende den Flur mit den Waschbecken putzen musste. Erneut ließ ich "Ungeschicklichkeit" walten, so dass sich alle klar wurden: "Den lassen wir nie wieder putzen." - Der Erzieher kam und gab mir ganz vorsichtig die "verdiente Ohrfeige". War dann die letzte.

Aber andere Kinder litten unter der Erzieher-Gewalt so sehr, dass es nicht mitanzusehen war. Durch gezieltes Mobbing konnte es den "Erziehern" abgewöhnt werden. Nach neun Monaten kündigte mir das Internat "wegen zu langer Haare".

So war die Zeit. Erst im November 2000 war dann auch die elterliche Gewalt verboten. Seither heißt es in § 1631 Absatz 2 Satz 1 BGB:

"Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig."

Auch das war eine Forderung von Leuten, die "68er" genannt werden und die "Antiautoritäre Erziehung" propagiert hatten. Natürlich gab es solche Erziehungskonzepte schon früher, seit Jahrtausenden, aber den Unterschied macht, ob es in Museen weilt oder in aktuellen Debatten eine Rolle spielt.
Wer brachte es in die Debatte? Die "Anti-68er" gewiss nicht.

Und natürlich blieb es kontrovers: Nach dem Internat kam ich wieder auf ein normales Gymnasium und mein Schlafplatz war seltener das Klassenzimmer, sondern mein Schülersprecher-Büro. Kurz vor dem Abitur bat mich mein Soziologie-Lehrer, doch wenigstens einmal im Unterricht zu erscheinen, ansonsten wüsste er mich fachlich nicht zu benoten. Das Thema war passender Weise "Antiautoritäre Erziehung". Zwei Stunden lang aus dem Stehgreif erzählt und diskutiert. Meine Kernthesen:

Antiautoritäre Erziehung ist ein Widerspruch in sich, da Erziehung Autorität voraussetzt, solange das Einsichtsvermögen unterentwickelt ist. Das kann zwar bis zum Friedhof der Fall sein, aber aus pragmatischen Gründen zwecks Menschenrecht und Demokratie gehen wir von zunehmender Eigenverantwortlichkeit, zunehmender Gleichberechtigung nach Lebensalter aus, was wiederum spiegelt, dass es daran vorher fehlt, durch Aufsichtspflichten und Erziehung kompensiert werden muss.

Die Position der "Antiautoritären Erziehung" deutete ich als Überreaktion auf schlechte Autoritäten:

Die Autorität, die sich auf Gewalt und boshafter Ausnutzung des Erfahrungsvorsprungs gründet, unterscheidet sich negativ von pädagogischer Autorität, die auf positive Vorbilder setzt und gegenseitigen Respekt zwischen Erziehungspflichtigen und "Zöglingen" übt, eine Autorität, die zwar ebenfalls den Erfahrungsvorsprung nutzt, aber eingedenk eigener Lernprozesse, einschließlich des Lernprozesses, dass nicht jeder Erfahrung die richtige Erkenntnis folgt.

So ist dem Begriff "Antiautoritäre Erziehung" nur im Verständnis seiner historisch-politischen Entwicklungsgeschichte anzuerkennen, dass er auf die Menschengleichberechtigung hinaus möchte, aber ignoriert den Unterschied zwischen Mehr- und Minderverantwortung seitens der Erziehungspflichtigen und Zöglinge, also die Weisungserfordernisse und solange den mitunter existentiellen Gehorsam: "Messer, Gabel, Feuer, Licht sind für kleine Kinder nicht"

Sofern mit "Antiautoritärer Erziehung" die "Gewaltlose Erziehung" gemeint sind, gilt es begriffliche Vertauschungen zu meiden. Dann soll direkt von "gewaltloser Erziehung" die Rede sein.

So bekam ich von einem "68er" und einem der wenigen Verfechter der Antiautoritären Erziehung eine schöne Eins ins Abi, ohne dass jemand neidisch wurde.

Ob ich inhaltlich überzeugte, ob etwas haften blieb, weiß ich nicht, denn falsche Klischees lassen sich leichter mal ins Wanken als zum Einsturz bringen, geschweigedenn durch Besseres ersetzen.

Und was wäre in diesem Beispiel aus meinen Siebzigern "den 68ern zu verdanken"? Antwort: Dass es überhaupt THEMA war.

Ansonsten wäre weiterhin geprügelt worden, denn Konservatismus heißt nun mal Beibehaltung, zumeist unkritisch gegenüber Tradiertem, während Nazis als Fans der übelsten Traditionen hinsichtlich der Kulte selektiver sind und das Prügeln für ein "Naturrecht" halten, wenn sie entweder nicht grad selbst drunter leiden oder sich schönreden ("Hat noch niemandem geschadet"), um sich von eigener Verletztheit freizureden, die häufig genug für ihre Ungnade gegen andere ursächlich ist.

Die "68er" brachten vieles ins Wanken, zum Einsturz wenig, zur Ersetzung durch Besseres noch weniger, denn zu vieles blieb ihnen in bloßer Überreaktion stecken, aber so nach und nach kam Besseres. Heute ist es eine CDU-Familienministerin, die mit gescheiten Gesetzesideen den Konservatismus der Konservativen ins Wanken und mitunter zum Einsturz bringt, durch Besseres ersetzt, wie z.B. mit ihren "Väter-Monaten", die ich gern ergänzt sehen würde, z.B. durch eine vierwöchige "Babyzeit", dass also Eltern die ersten vier Wochen gemeinsam ... - auch das kommt irgendwann.


Mario schrieb am 14.03.2008 14:34 Uhr: "Wir können alte Dinge wieder zum Leben erwecken - wenn wir denn so wollen."

Nun bringe Du Dein Beispiel.

-msr- >> Diskussion